JOHANN CASPAR LAVATER
PHYSIOGNOMISCHE FRAGMENTE, 4 BDE, LEIPZIG UND WINTERTHUR , 1775-1778
WISSENSCHAFTLICHES GLAUBENSBEKENNTNIS
Die Lehre der Physiognomik geht davon aus, dass sich der Charakter eines Menschen an seinen Gesichtszügen ablesen lasse. Lavater versteht diese Theorie als Wissenschaft, die auf den Massen und Proportionen des Schädels, des Gesichts und dessen „messbaren“ Teilen (Nase, Kinn, Ohren und Augen) aufbaut.
Lavaters Vierbänder enthält zahlreiche Porträts berühmter Männer, die jeweils für einen bestimmten Charakter stehen. Er interpretiert das individuelle Gesicht letztlich als Zeichen Gottes, das es zu deuten gilt. Dabei stützt er sich auf die Semiotik, die Lehre der Zeichen, die von äusseren Formen auf innere Eigenheiten schliessen lässt.
Dahinter steht der zutiefst religiöser Kerngedanken, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen habe. Für Lavater wird daher die Ähnlichkeit mit Jesus zum absoluten Beurteilungsmassstab, weshalb er seine Physiognomik als die „Offenbarung des Guten, das in Gott ist“, versteht. Damit erhebt Lavater seine Theorie zum Glaubensbekenntnis.
ÜBUNGSBUCH FÜR MENSCHENKENNTNIS
Lavaters „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschliebe“ erschienen jeweils im Jahresabstand zwischen 1775 und 1778. Durch die zahlreichen Illustrationen zählte der Vierbänder zu den teuersten Publikationen des 18. Jahrhunderts. Der deutschen Erstauflage folgten englische, französische, holländische und russische Übersetzungen, jeweils mit neuen Stichen und Silhouetten.
Viele Künstler kopierten und malten Silhouetten, Kopien berühmter Porträtmalereien und Zeichnungen antiker Köpfe aus ganz Europa für Lavaters physiognomische Sammlung, darunter Johann Heinrich Füessli und Daniel Chodowiecki. Sogar Johann Wolfgang von Goethe trug mit Zeichnungen und Ausführungen wesentlich zu den ersten beiden Bänden bei. Die Sammlung selbst umfasste schliesslich über 22.000 Blätter und befindet sich heute in der Nationalbibliothek Wien. Lavater verfolgte das Ziel, „dem Leser und Forscher so viel mannigfaltige Köpfe, wie möglich, vorzulegen, und sein physiognomisches Gefühl zu üben. - Jeder mag sich prüfen, ob sein Gefühl mit dem Urtheil, das man ihm vorlegen wird, übereinstimmt?“ An welchen Zeichen jedoch welche Charaktereigenschaften abgelesen werden können, bleibt in den vier Bänden unklar. Nach Erscheinen der „Physiognomischen Fragmente“ wandten sich zahlreiche Personen hilfesuchend an Lavater. Sie sandten Schattenrisse von Freunden, Verwandten und Bekannten, zukünftigen Ehegatten und Geschäftspartnern, um deren Charakter einschätzen zu lassen. Lavaters Lehre erfuhr aber auch heftige Kritik. Angesichts der enthusiastischen Aufnahme der Physiognomischen Fragmente sprach etwa Georg Christoph Lichtenberg von einer „Raserei der Physiognomik“.
PIETISTISCHER PFARRER ALS BERÜHMTHEIT
Johann Caspar Lavater kam 1741 in Zürich als zwölftes Kind des Arztes Johann Heinrich Lavater und Regula Escher vom Glas zur Welt. Einer rebellischen und einer patriotischen Phase in seiner Jugend schloss sich eine fromme Phase an. Er studierte Theologie und wurde zuerst Diakon der Waisenhauskirche, später Pfarrer an der Kirche St. Peter. 1769 forderte Lavater den bekannten jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn aus Berlin auf, entweder die Ausführungen eines christlichen Werks zu widerlegen oder zu konvertieren. Der daraus hervorgegangene Briefwechsel wurde von vielen Zeitgenossen aufmerksam verfolgt.
Lavater verfasste über 130 Schriften. Weit über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus bekannt machte ihn jedoch erst sein Hauptwerk „Physiognomische Fragmente“. Berühmtheiten aus Politik, Wirtschaft und Kunst besuchten ihn, darunter auch Johann Wolfgang von Goethe, der jedoch nach wenigen Jahren auf Distanz ging.
1799 wurde Lavater von Napoleons Truppen verhaftet und nach Basel gebracht, wo er ein paar Wochen inhaftiert blieb. Noch im selben Jahr wurde er angeschossen und starb 1801.
PHYSIOGNOMIK DURCH DIE JAHRHUNDERTE
Die Lehre der Physiognomik geht bis auf die Antike zurück und übte einen starken Einfluss auf die mittelalterliche Malerei aus. Mit dem Buchdruck verbreiten Autoren wie Giambattista Della Porta die Thesen in weitere Kreise. Portas Werk „De humana physiognomia“ ordnet 1586 Ähnlichkeiten zwischen Tieren und Menschen analoge Eigenschaften zu. Zur Unterscheidung der Geschlechtercharaktere werden die mutigen, ehrlichen und kraftvollen Männer den ängstlichen, verschlagenen und schwachen Frauen gegenüber gestellt und mit entsprechenden Tieren verglichen. Bereits dieses frühe Werk enthält zahlreiche Illustrationen.
Im 17. Jahrhundert knüpft die reich bebilderte Affektenlehre von Charles Le Brun an diese Tradition an, die allerdings den Gesichtsausdruck ins Zentrum stellt. Im 18. Jahrhundert wendet Lavater die Physiognomik dagegen ausschliesslich auf nicht veränderbare Gesichtsteile an und bringt sie zu einem ungeahnten Aufschwung.
Eine Weiterführung seiner Theorie lässt sich in Franz Joseph Galls Phrenologie erkennen, die aus Schädelformen Charaktermerkmale ableitete. Auch andere Wissensbereiche des 19. Jahrhunderts bauten auf Lavaters Lehre auf: die Anthropometrie, die Geisteskranke und Kriminelle an ihren Körpermassen erkennen wollte, gefolgt von der Kriminologie als Verbrecherkunde, mit der Cesare Lombroso 1876 den Topos des „geborenen Verbrechers“ schuf, und von der Kontitutionstypologie Ernst Kretschmers 1921. Ihren pervertierten Höhepunkt fand die Physiognomik in der Rassenhygiene.